Meine schwierigkeiten mit der frage
Wie geht es dir?
Diese scheinbar einfache Frage ist wohl eine der schwierigsten für mich. Normalerweise antworte ich einfach automatisch mit ‘Ganz gut, und selbst?’ ohne wirklich darüber nachzudenken, wie es mir tatsächlich geht. Aber seien wir ehrlich, viele Menschen wollen gar nicht die ehrliche Antwort hören. Stell dir vor, du triffst einen alten Bekannten im Supermarkt und er fragt, wie es dir geht. Wenn du dann ehrlich antwortest, dass du gerade in einer depressiven Phase steckst und deshalb seit langem nicht arbeiten kannst, dann ist er oft peinlich berührt und weiß nicht, was er sagen soll. Ich sage das nicht, weil ich denke, dass es so ist, sondern weil ich es schon mehrmals erlebt habe. Einige Menschen, und ich möchte hier nicht alle über einen Kamm scheren, sind oft überfordert, wenn die Frage ‘Wie geht es dir?’ offen und ehrlich beantwortet wird. Sie wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen, und das Schweigen wird unangenehm. Automatisch spiele ich dann alles herunter, lächle und sage: ‘Aber es gibt Schlimmeres. Das geht auch wieder vorbei. Und wie geht es dir?’ Das führt dazu, dass die Menschen oft nicht wirklich wissen, wie es mir geht. Sie denken, alles ist in Ordnung, weil ich es so wirken lasse.
Wie geht es dir wirklich? Tief in dir drin?
Kürzlich war ich mit einer Freundin unterwegs. Wir hatten bereits ein paar Mal über mein Krankheitsbild gesprochen. Und dann fragte sie mich: ‘Wie geht es dir wirklich? So in dir drin?’ Ich fand es so schön, das zu hören. Zum einen zeigte es echtes Interesse an mir. Sie wollte nicht nur die oberflächliche Antwort, sondern wirklich wissen, was in mir vorgeht. Zum anderen merkte ich, dass sie verstanden hatte, wie ich ticke. Dass ich eine Fassade habe und man nur mit gezielten Fragen dahinterkommt.
Für mich ist die ehrliche Frage ‘Wie geht es dir?’ eine wahnsinnig schwere Frage. Denn ganz ehrlich: Ich weiß es oft selbst nicht. Ich spüre es nicht, weil ich zu meinen Gefühlen dissoziiere. Und wenn ich mal wirklich etwas fühle, dann passt es nicht immer zur jeweiligen Situation. Ich spüre eher körperliche Symptome als Gefühle. Ich kann dann sagen, dass ich beispielsweise ein Druckgefühl im Bauch spüre, eine Enge in der Brust oder Kopfschmerzen. Aber was ich eigentlich fühle oder was ich brauche, das merke ich nicht. Es gibt viele Situationen, in denen ich merke, welches Gefühl gerade angemessen wäre, aber ich fühle es einfach nicht. Manchmal mischen sich auch Gefühle ineinander. Ich habe zum Beispiel oft das Bedürfnis, die Tränen zurückzuhalten, wenn ich ehrlich lache. Es ist, als würde durch das Lachen ein wenig Gefühl freigesetzt, und gleichzeitig hängt sich ein anderes Gefühl heimlich an den Zug an. Und ganz ehrlich: Ich habe oft Angst schöne und wichtige Situationen zu verpassen, weil ich die Gefühle nicht richtig wahr nehmen kann.
Es ist in Ordnung
Lange Zeit habe ich darum gekämpft, dass ich relativ emotionslos bin. Ich dachte oft, nachdem ich dieses oder jenes Thema in der Therapie angesprochen hatte, müsste sich doch etwas lösen. Aber danach war ich meist noch emotionsloser. Ein Therapeut erklärte mir das als Selbstschutz. Der Körper rettet sich, indem er die Emotionen abschaltet, um sich so vor zu vielen schmerzhaften Gefühlen zu schützen. Und genau deshalb tritt die Dissoziation bei PTBS oft auf. Der Körper kann die Gefühle des traumatischen Erlebnisses nicht ertragen und spaltet sie ab. Das ist auch heute noch oft bei mir der Fall. Ich spüre wenig bis kaum Gefühle, und weißt du was? Das ist absolut in Ordnung! Es ist ein schlauer Mechanismus des Körpers, um zu überleben. Es ist absolut in Ordnung, gerade nichts zu fühlen. Das darf sein! Genauso wie es vollkommen in Ordnung ist, etwas anderes zu fühlen. Ich muss mir das selbst auch immer wieder vorsagen, da es mir oft noch schwerfällt, entweder nichts zu fühlen oder mit den Gefühlen überfordert zu sein.
Alle Gefühle haben ihre Berechtigung
Ich habe Gefühle oft in richtig und falsch kategorisiert. Bin ich gerade wütend, dann ist das falsch. Fühle ich mich unruhig, obwohl ich eigentlich entspannt sein müsste, dann ist das auch die falsche Emotion. Ich muss lernen, dass alle Gefühle sein dürfen. Sie haben alle ihre Berechtigung und ihre Gründe, warum sie da sind. Und niemand von ihnen ist ein Feind. Sie wollen uns nichts Böses, sie wollen uns sogar eher schützen oder helfen. Am Ende wollen sie alle gehört werden. Sie alle wollen ihren Raum haben, um sich mitzuteilen. Es ist vielleicht nicht immer der richtige Zeitpunkt für sie, aber sie haben trotzdem ihren Grund, gerade da zu sein.
Es gibt Situationen, in denen sind nicht immer alle Gefühle hilfreich. Beispielsweise sitzt man gerade in einer Entspannungsübung und merkt wie unruhig man wird. Vielleicht wird man sogar wütend. Da hilft es sich dem Gefühl zuzuwenden. Schiebst du es weg und versuchst es zu ignorieren wird es nur noch lauter. Stell es dir vor wie ein kleines Kind, das etwas möchte. Ignorierst du das Kind, fängt es vielleicht an zu schreien oder wirft sogar mit Spielzeug nur um gehört zu werden. Und so kann es auch mit Gefühlen sein. Sie kommen aus einem Grund und wollen uns etwas mitteilen. Du kannst mit dem Gefühl quasi in einen kleinen inneren Dialog gehen. Bedanke dich bei ihm, dass es sich meldet. Sag ihm, du hast es gehört und es wahr genommen und schätzt es, dass es gerade aufgetaucht ist. Sage ihm aber auch, dass jetzt nicht der richtige Moment dazu ist, dass ihr euch später/heute Abend oder wann immer es dir passt, nochmal zusammen setzen könnt. Ich weiß, es klingt total seltsam so mit seinen Gefühlen in Dialog zu helfen. Aber teste es gerne mal aus. Mir hat es in mancher Situation schon geholfen. Vielleicht ist es ja auch etwas für dich. Und vergiss nicht: Alles darf sein. Es gibt kein richtiges oder falsches Ergebnis. Alle Gefühle dürfen einfach sein.”